Ein Gruppe von Menschen steht im Kreis und motiviert sich selbst

Holacracy – wenn der Prozess das Unternehmen führt

Holacracy verteilt die Macht, Entscheidungen zu treffen, nach den Fähigkeiten der Menschen und nicht nach ihren Titeln. Was sich nach Chaos anhört, schafft maximale Flexibilität und Struktur.


Wie bemerken Sie eine Störung an Ihrem Auto? Woran erkennen Sie, dass eine Maschine nicht mehr rund läuft? Messgeräte und Signallampen weisen Sie darauf hin. Es sind Sensoren, die „Achtung!“ rufen.

Welche Sensoren aber finden Sie in Ihrer Organisation? Wie erfahren Sie von unrunden Prozessen, verschleppten Entscheidungen und überkommenen Strukturen? Es sind Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die davon wissen.

Menschen als Sensoren in einem Unternehmen verfügen über wichtige Informationen. Doch nur dann, wenn sie diese Informationen auch teilen, können sinnvolle Veränderungen angestoßen werden. Bleiben Impulse hingegen unbeachtet, herrscht Stagnation und Potentiale werden verschenkt.

Wie Wissen zu Veränderung führt

Dabei ist die menschliche Fähigkeit, in laufenden Prozessen Unstimmigkeiten zu entdecken und das Potenzial zur Veränderung zu sehen, eine wichtige Gabe. Je kreativer wir sind und je weniger wir uns mit dem Status quo zufriedengeben, desto eher wollen wir Bestehendes weiterentwickeln.

Nur, wie kann aus Wissen Veränderung entstehen? Die meisten Organisationen verfügen über keine Führungsstruktur, die es zulässt, dass Informationen, über die Angestellte verfügen, eine Weiterentwicklung bewirken. Hierarchie bremst.

Häufig erfolgt das Führen nach dem Prinzip Vorhersagen und Kontrollieren. Dabei haben Organisationen das Ziel, durch Vorausplanung, zentrale Kontrolle und starres Festhalten an der Strategie dauerhafte Erfolge einzufahren.

Doch dieses Prinzip funktioniert immer weniger. Die wirtschaftlichen Veränderungen kommen schnell. Aber die Anpassungsfähigkeit der Organisation hält damit nicht Schritt. Neue Organisationsformen sind gefragt.

Dabei ist Anpassung möglich. Was es dafür braucht, ist ein System. Ein System, das ähnlich dem Betriebssystem eines Computers Neuerungen, Anpassungen und Weiterentwicklungen ermöglicht.

Autorität braucht keine Personen

Holacracy ist ein solches System. Es hält nicht an Top-down-Prozessen fest. Es fordert und fördert eine neue Form der Autorität. Denn die Einflussmöglichkeiten, die sonst bei Führungspersonen oder Managern liegen, werden auf Kreise, die nach Rollen besetzt sind, verteilt.

Erdacht hat diese neue Organisationsform, die auch Holakratie und (fälschlicherweise) Holokratie genannt wird, Brian J. Robertson. Er arbeitete als Softwareentwickler und ist Gründer des Unternehmens Ternary Software. Schon von Beginn an experimentierte der Fachmann mit neuen, demokratischeren Organisationsstrukturen.

Im Jahre 2007 stellte er Holakratie erstmals öffentlich vor. Erfunden hatte er nicht weniger als eine funktionierende Alternative zur klassischen Managementhierarchie. Drei Jahre später veröffentlichte Brian Robertson die Holacracy-Verfassung, die die Grundlage für den Aufbau neuer Unternehmenskulturen bietet.

Rollen statt Positionen

Holakratie verfolgt den Ansatz, Stellenbeschreibungen durch Rollen zu ersetzen. Denn Robertson zufolge sind Stellenbeschreibungen meist schon in dem Moment nicht mehr aktuell, wenn sie aus dem Drucker kommen.

Holakratie unterscheidet zwischen Rollen und den Menschen, die diese Rollen ausfüllen. Eine Person kann zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrere Rollen übernehmen – genauso wie im Privatleben, wo es zum Beispiel die Rolle als Elternteil, als Gemeindemitglied, als Nachbar, Freund und als Verwandter gibt. Und ebenso, wie man in diesen Rollen eigenständig und selbstverantwortlich Entscheidungen trifft, geht Holacracy davon aus, dass man das im Unternehmen auch schafft.

In Organisationen werden die Rollen von Kreisen regelmäßig neu definiert. So gelingt es, sie den sich ständig ändernden Anforderungen des Unternehmens anzupassen. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter darf Vorschläge zur Verbesserung der Struktur der Zusammenarbeit vorbringen, die in sogenannten Governance-Meetings prozessiert werden. Ein aus dem Kreis gewählter Facilitator leitet den Prozess gemäß den Regeln der Verfassung.

Infografik, die die alte und neue Rollenverteilung im Unternehmen aufzeigt

Hierarchie vs. Holacracy

Ein neues Modell für laterales Führen

Woran erkennt die Führung einer Organisation, dass es Zeit ist, sich eine neue Organisationsform anzuschauen, die Klarheit und Transparenz über die Arbeit in einem Team ermöglicht und dabei hilft, Entscheidungsprozesse schlank und effektiv zu halten?

Für Dennis Wittrock, zertifizierter Holacracy-Coach und Buchautor, gibt es dafür deutliche Anzeichen: „Häufig beginnt es damit, dass

Bewerberinnen und Bewerber in ihren Gesprächen die Autoritätsstruktur infrage stellen. Sie erkennen das Top-down und vermissen die Augenhöhe. Damit einher geht eine steigende Unzufriedenheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wer näher am Kunden arbeitet als die Unternehmensführung, möchte auch mehr Entscheidungen treffen dürfen.“

Was machen Unternehmen mit dieser Erkenntnis? Wer es ernst meint mit dem Willen zur Veränderung, geht auf die Suche. Zu entdecken gibt es dabei verschiedene Formen, Systeme oder Methoden der Führung und Zusammenarbeit. Am Ende finden dann viele, oft auch über Scrum und Agile, zur neuen Organisationsform Holakratie.

Wer es nicht ernst meint, sollte es lassen

„Holakratie funktioniert als bewährtes Modell, vergleichbar mit dem Betriebssystem eines Computers. Ich muss mir keine Einzelbausteine suchen und zusammensetzen, sondern kann es als Komplettpaket nutzen“, erläutert Dennis Wittrock. „Das weckt Interesse und macht das Angebot reizvoll.“

Welchen ersten Schritt sollten Organisationen tun, wenn sie Holakratie implementieren wollen?

„Sich einen Coach zu nehmen, hilft natürlich“, aber viel wichtiger ist das unabdingbare Commitment zur Holakratie. Die Umstellung auf ein anderes Betriebssystem führt zu einem tiefgreifenden Wandel in jeder Organisation.“

Dennis Wittrock, zertifizierter Holacracy-Coach

„Wer sich an einen Coach wendet“, so Wittrock, „hat ein klares Ziel, weil er schon um die radikale Neugestaltung seiner Autorität und der neuen lateralen Führung, die dadurch Einzug ins Unternehmen hält, weiß.“

„Schon im Kennenlern-Meeting muss uns der Kunde überzeugen, dass er Holakratie wirklich will“, berichtet Wittrock aus der Praxis. „Weisungsbefugnisse und Status aufzugeben, geht für Führungskräfte oft ans Eingemachte. Es ist keine rein kosmetische Maßnahme, sondern krempelt die Machtstruktur der Organisation komplett um. Nicht jeder ist bereit dafür.“

So kann der Coach herausfinden, ob das Unternehmen den Wandel wirklich will. „Holacracy hält den Menschen einen Spiegel vor. Das kann nicht jeder gut ertragen. Stellen Sie sich das System wie einen Geist aus der Flasche vor – ist er einmal entwichen, bekommen Sie ihn nie wieder in die Flasche zurück. Wer einmal von der Freiheit gekostet hat, die die Rollenautonomie in Holacracy bringt, der möchte meist nicht wieder zurück in die alte Welt.

Unternehmen, die Holacracy anwenden

Eine Vielzahl von Unternehmen hat sich bewusst für diese neue Organisationsform entschieden. Hier berichten einige davon, was ausschlaggebend für die Implementierung war, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit umgegangen sind und warum es keinen Weg zurück gibt.

Overstappen

Joris Evendik ist ehemaliger Geschäftsführer von Overstappen.nl, einem 2008 gegründeten E-Commerce-Start-up. Im Januar 2017 ratifizierte das Unternehmen die Holakratie-Verfassung.

„Wir wuchsen damals sehr schnell, aber ich hatte das Gefühl, dass wir reaktiv geworden waren und nicht proaktiv handelten. Ich kam zu der Erkenntnis, dass ich daran schuld war, nicht die Techniker, die die eigentliche Arbeit verrichteten“, erzählt der Unternehmer in dem Blog

„Deshalb fragte ich in unserem Managementteam: ‚Was hältst du davon, Führung zu übernehmen?‘ Die meisten lehnten es ab. Also führten wir eine Umfrage im gesamten Unternehmen durch: ‚Wem vertraust du mehr, deinem Management oder deinen Kolleginnen und Kollegen?‘

Über 80 Prozent gaben an, dass sie letzteren mehr vertrauen als ihrem Management. Die Einführung von Holacracy hat dafür gesorgt, dass uns keine Führungskräfte mehr im Weg stehen, weil jetzt alle Führungskräfte sind. Das Beste aber: Jeder von uns musste lernen, seine Ideen auch zu verkaufen. Und das war für alle besser.“

MYCS

MYCS ist ein Unternehmen, in dem verschiedene Welten aufeinandertreffen: Das klassische Möbelgeschäft wird mit der neuesten Konfigurator-Technologie kombiniert. Kai Sap, einer der Gründer, berichtet von seinen Erfahrungen.

„Die Entscheidung, Holacracy einzuführen, ist aus der Not geboren worden, um mit der Komplexität und Schnelligkeit, die in einem Start-up herrscht, umgehen zu können“, verrät Kai Sap im Blog  . „Wir hatten damals, wie in vielen Start-ups, viele Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger. Die Frage, vor der wir als Gründer standen, war: Diktator sein und Befehle brüllen oder Kompetenzen aufbauen, was aber Zeit braucht?

Wir entschieden uns dann dafür, einen Piloten zu starten und Holacracy in einem Operations-Team mit zwölf bis fünfzehn Leuten zu testen. Dieser Test dauerte dann am Ende eineinhalb Jahre. Hierfür hat die Gruppe auch externe Hilfe bekommen, um die Transformation zu begleiten. Es gab auch Workshops mit dem Team, um die Methoden der Holacracy kennenzulernen und auch anwenden zu können.

Ich denke, dass es wichtig ist, sich längerfristig externe oder interne Expertise ins Unternehmen zu holen. Nur ein, zwei Tagescoachings und dann loslegen – so etwas ist zum Scheitern verurteilt. Für uns gibt es jetzt kein Zurück in die Hierarchie mehr. Auch wenn wir das immer mal wieder gefragt wurden. Wir halten an dieser neuen Organisationsform fest.“

Soulbottles

Johanna Ebeling von Soulbottles  , einem Start-up aus Berlin, das Trinkflaschen aus Glas und Edelstahl herstellt, erzählt, wie sich das Unternehmen dank Holacracy entwickelt hat.

„Wir haben uns die Holacracy Constitution Ende 2014 gegeben, um entspannt auf organisatorisches und personelles Wachstum reagieren zu können. Gleichzeitig wollten wir die Eigenverantwortlichkeit aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den jeweiligen Verantwortungsbereich stärken.

Wir wollten effizientere Meetings haben, in denen klare Prozesse eine reibungslose Verarbeitung von Agenda-Punkten gewährleisten und Transparenz schaffen. Mit Holacracy haben wir die Möglichkeit, die Organisation dann strategisch und operativ zu steuern.

Bei uns wissen nun alle: Wer ist wofür genau zuständig? Wo kann ich meine Ideen einbringen? Wie laufen Entscheidungen ab? Holacracy will eben Selbstverantwortung und Selbstorganisation, will Entscheidungskompetenzen dezentralisieren und Entscheidungsgewalt im Unternehmen verteilen.“

Mehr Informationen

Der Experte

Dennis Wittrock  ist zertifizierter Holacracy-Coach und Mitautor des Buches Anders wirtschaften. Integrale Impulse für eine plurale Ökonomie sowie Autor zahlreicher Artikel über Holakratie. Er arbeitet hauptsächlich als interner Holakratie-Coach in der Hypoport AG und ist Partner von encode.org, einem holakratischen Unternehmen, das rechtliche, finanzielle und soziale Grundlagen für Selbstorganisation weiterentwickelt.
Mehr Informationen

Die Verfassung

Die Holacracy-Verfassung hält die wesentlichen Regeln, die Struktur und die Prozesse des Betriebssystems Holacracy für die Führung eines Unternehmens fest. Die Verfassung bildet die Grundlage für jedes Unternehmen, das Holacracy einsetzen möchte. Zusätzlich verankert sie die Machtstrukturen in Regeln, die gleichermaßen für alle Beteiligten gelten und auf die alle Beteiligten zurückgreifen können.
Team & Transformation